Das Fallbeispiel des Logistikkonzerns Kühne+Nagel und seine Folgen
4 qm Wahrheit
Die Genese des Projekts
»4 QM WAHRHEIT« – Von der KAMPAGNE zum Bauwerk
Kühne+Nagel feiert 2015 auf dem Bremer Marktplatz sein 125-jähriges Jubiläum und stellt dabei die Firmengeschichte zur Schau. Die taz recherchiert die fehlenden Fakten, u.a. die maßgebliche Beteiligung der Firma am Abtransport der Wohnungseinrichtungen der deportierten jüdischen Bevölkerung in ganz Westeuropa
Crowdfunding: 27.003 Euro werden für den Kauf von 4 qm Boden auf dem Platz gesammelt, auf dem K+N seinen Neubau errichten will, als Mahnmal-Standort
Gestaltungs-Wettbewerb: Die taz sammelt Ideen, wie »die Totalität der ,Verwertung‘ jüdischen Eigentums in Gestalt eines Mahnmals visualisiert werden könnte. Unter den 60 Teilnehmenden aus ganz Deutschland und Österreich sind sowohl bekannte Künstler:innen als auch Schulklassen. Der Wettbewerb löst zahlreiche familienbiographische Nachfragen und Auseinandersetzungen aus. Eine Fachjury setzt den Entwurf von Evin Oettingshausen auf Platz 1.
Ausstellung in der Bürgerschaft: »Spuren der Beraubung – Ideen für ein Bremer ,Arisierungs‘-Mahnmal«.
taz-Symposium: »Arisierung« – über den Umgang mit dem Unrechts-Erbe
Alle Fraktionen der Bürgerschaft beschließen, im November 2016, den Bau des Mahnmals
Langes Ringen um den »richtigen« Standort: Soll das Mahnmal bei K+N, am Europahafen, an der Jugendherberge oder irgendwo dazwischen verortet werden?
Dynamik: Parallel zum politischen Prozess entstehen, ausgelöst von »4 qm Wahrheit«, künstlerische Aktionen, temporäre Mahnmale, internationale Ausstellungsbeiträge, Regionalromane, Radioreportagen und Masterarbeiten
Ergebnis: Im Februar 2022 beschließt der Bremer Senat den Mahnmal-Bau bei den Weser-Arkaden, am 10. September 2023 wird es eingeweiht.
Rück- und Überblick: taz.de/mahnmal
Leerstellen und Geschichtslücken:
Bremens Rolle bei der »Verwertung« jüdischen Eigentums
Seit 2015 wurde in Bremen über die Errichtung eines »Arisierungs«-Mahnmals diskutiert, jetzt ist es soweit: Am 10. September wurde es eingeweiht und thematisiert am Weserufer, zwischen Wilhelm-Kaisen-Brücke und Weserarkaden, die systematische Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung.
Der Fokus des Mahnmals liegt auf der besonderen Rolle Bremens als Hafen- und Logistikstandort bei der »Verwertung« jüdischen Eigentums. Diese beruht zum Teil auf der erzwungenen Massenauswanderung jüdischer Familien über Bremerhaven. Insbesondere profitierte Bremen jedoch durch den Abtransport jüdischen Besitzes aus den besetzten Ländern Westeuropas (»Aktion M«). Maßgeblich beteiligt war der Speditionskonzern Kühne+Nagel, dessen Firmenjubiläum 2015 zum Auslöser der Mahnmaldebatte wurde.
Kühne+Nagel bemühte sich erfolgreich um eine zentrale Rolle beim Abtransport jüdischen Eigentums, sowohl im Rahmen der »Aktion M« als auch in den südeuropäischen Hafenstädten. Die Internationalisierung der Firma erfolgte somit in den Fußstapfen der Wehrmacht: Das Netz von Niederlassungen in den eroberten Ländern diente als logistische Grundlage der Beraubung, parallel entwickelte das Unternehmen das Geschäftsfeld der Militärlogistik – in dem es bis heute eine führende Rolle spielt. Mit anderen Worten: Kühne + Nagel verdankt seinem Engagement in der NS-Zeit bis heute wesentliche Entwicklungsimpulse.
Wenig überraschend, dass von all dem bei der groß inszenierten Jubiläums-Feier der Firma auf dem Bremer Marktplatz, bei der die Firmengeschichte in einem History-Truck präsentiert wurde, nicht die Rede war. Doch auch auf explizite Nachfrage erklärte die Unternehmenskommunikation, den 30er und 40er Jahren mangele es »an Relevanz für die Firmengeschichte«.
Der Fall Kühne+Nagel ist ein Anachronismus – der jedoch zugleich auf ein aktuelles Problem verweist: die fehlende gesamtgesellschaftliche Befassung mit dem unangenehmen Thema »Arisierung« An ihr bereicherten sich, neben dem nationalsozialistischen Staat und den Logistikern dieser »Verwertung«, große Teile der Bevölkerung. Auch in vielen Bremischen Privathaushalten standen damals – und stehen z. T. noch heute – Möbel und Klaviere, hingen Gemälde und Lampen, wurden Alltagsgegenstände wie Bestecke benutzt, die jüdischen Familien gehörten, die ins Exil vertrieben, deren Leben vernichtet, deren Besitztümer »verwertet« und deren Spuren eliminiert wurden. Auch diese Dimensionen des Unrechterbes thematisiert das Mahnmal.
Das Mahnmal wird im Herzen der Stadt stehen, an der Weser, auf der Frachtschiffe enorme Mengen geraubter Möbel aus den Niederlanden sowie Hausrat aller Art nach Bremen brachten. Der von der Stadtbürgerschaft fraktionsübergreifend zur Ausführung vorgesehene Entwurf von Evin Oettingshausen besteht aus einem annähernd sechs Meter tiefen Schacht, der zunächst nichts als Leere zeigt - die scheinbare Abwesenheit von Geschichte, deren Vergessen und Verdrängen. Ganz unten ist jedoch seitliches Licht zu sehen. Wer daraufhin zum Weserufer hinunter steigt, erkennt an den Wänden des Schachtes schemenhafte Schattenrisse: Spuren von Möbeln, von Einrichtung, von zerstörten Leben. Die Installation thematisiert auf diese Weise die Totalität der Beraubung der jüdischen Bevölkerung, die dem Massenmord direkt vorausging. Deren Wohnungen wurden komplett ausgeräumt, sämtliche Besitztümer der Deportierten u.a. auf »Juden-Auktionen« »verwertet«.
Elvira Noa, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bremen, war Teil der Fachjury, die den Entwurf, den Oettingshausen unter dem Titel »Leerstellen und Geschichtslücken« 2016 beim Ideen-Wettbewerb der taz (s. Kasten) eingereicht hatte, zur Realisierung vorschlug. Zur Verortung des Mahnmals an der Kaisenbrücke, der nach langen Auseinandersetzungen um den passenden Standort gefunden wurde, sagt sie: »Dieser Ort kommt dem Gedenken sehr entgegen. « Die Umgebung passe. Die »Einfachheit und Klarheit der Mauern« gebe Raum, das Mahnmal als Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hinzuzufügen.
Zum Bau des Mahnmals beitragen sollen laut Beschluss der Bremischen Bürgerschaft alle, die sich an der Verfolgung der jüdischen Bürger*innen bereicherten: öffentliche Hand, Unternehmen und private Haushalte. Während der Innenraum des Mahnmals als dessen künstlerisch-konzeptioneller Kern mit privaten Spenden finanziert wird, stellen die Stadt und die Wirtschaft Mittel bereit, die die Baumaßnahmen ermöglichen. Die Gesamtkosten liegen bei 476.000 Euro.
Der Spendenaufruf wurde von 210 Personen erstunterzeichnet, die sich seit Beginn der Bemühungen um ein Mahnmal (2015) für das Projekt interessiert und engagiert haben - zahlreiche Bremer*innen ebenso wie internationale Fachleute aus den Bereichen politische Bildung, bildende Kunst und Geschichtswissenschaft. Darin zeigt sich sowohl die überörtliche fachliche Unterstützung des Anliegens als auch der konkrete Rückhalt, den das Projekt in der Bremer Stadtgesellschaft gewonnen hat.
Der Spendenaufruf für das »Arisierungs«-Mahnmal war schneller erfolgreich, als erwartet. Innerhalb von nur zehn Tagen kamen die 40.000 Euro aus der Zivilgesellschaft zusammen, die für die Gestaltung des Mahnmal-Innenraums benötigt werden. Mit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine wurde die Spendensammlung wenig später eingestellt, insgesamt stehen nun dennoch 61.671,86 Euro an privaten Mitteln für den Mahnmalbau zur Verfügung.
Henning Bleyl, der als damaliger taz-Redakteur das Mahnmal-Projekt initiierte und sich seit dem Ausscheiden aus der taz ehrenamtlich für dessen Umsetzung engagiert, verdeutlicht noch einmal den Hintergrund der Mahnmal-Initiative: »Durch das restlose Ausräumen der Wohnungen und Häuser jüdischer Menschen wurden deren Lebensräume und -spuren vernichtet. Zugleich diente die restlose »Verwertung« ihres Eigentums der Herrschaftssicherung: Der NS-Staat funktionierte auch als ,Beute-Gemeinschaft‘. Bremens besondere Rolle hierbei liegt in der europaweiten Logistik der »Verwertung« jüdischen Eigentums. Auf diese lange ignorierte Rolle fokussiert sich das Mahnmal.«
Evin Oettingshausen verweist auf weitere notwendige Schritte: »Der Bau des Mahnmals ist ein guter erster Schritt um auf die vielschichtigen Dimensionen von NS-Enteignungskontexte hinzuweisen. Eine multiperspektivische Ausgestaltung der erinnerungskulturellen Arbeit zu den Folgen der nationalsozialistischen Beraubung und eine weitere wissenschaftliche und inhaltliche Aufarbeitung, beispielsweise zu den Profiteur*innen, sollte meiner Meinung nach unbedingt zu den nachfolgenden Schritten gehören.«
Henning Bleyl
Im April 2019 gab es ein gemeinsames Pressegespräch mit Elvira Noa, der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Bremen, am Tiefer
Pressetext:
Für die Errichtung des von der Stadtbürgerschaft 2016 beschlossenen »Arisierungs«-Mahnmals, das an Bremens besondere Rolle bei der Logistik der »Verwertung« jüdischen Eigentums aus ganz Europa erinnern soll, wird ein neuer Standort zur Prüfung vorgeschlagen: Es soll zwischen den Arkaden am Tiefer und der östlichen Seite der Wilhelm Kaisen-Brücke gebaut werden. Diese Idee wurde heute bei einem Pressegespräch präsentiert, bei dem auch die Jüdische Gemeinde Bremen vertreten war.
Der von der Stadtbürgerschaft fraktionsübergreifend zur Ausführung vorgesehene Entwurf besteht aus zwei rechtwinklig aufeinander treffenden Sichtschächten: Von oben betrachtet ist lediglich ein leerer Raum zu sehen, der das Vergessen von Geschichte symbolisiert. Von der Seite her sind jedoch Schattenrisse ehemals vorhandener Einrichtungsgegenstände zu sehen. Diese Installation thematisiert die Totalität der Beraubung der jüdischen Bevölkerung, die dem Massenmord direkt vorausging. Deren Wohnungen wurden komplett ausgeräumt, sämtliche Besitztümer der Deportierten u.a. auf »Juden-Auktionen« »verwertet«.
Für Evin Oettingshausen, verantwortlich für den Enwurf der Mahnmal-Konzeption,, ist das Mahnmal an der Kaisen-Brücke besser umzusetzen als an den Sitzstufen der Schlachte, wo die Realisierung gegenwärtig vorgesehen ist. Grund sei die stark unterschiedliche Höhe des Geländeversatzes: »Während wir an den Schlachte-Stufen durch Umbauten auf 3,15 Meter kommen, ist hier eine Höhe von ca. 6 Metern vorhanden«, so Oettingshausen beim Pressegespräch. »Der dadurch mögliche vertikale Sichtschacht symbolisiert die Geschichtslücken, seine Tiefe verweist auf die vielschichtigen Spuren der Enteignungskontexte.« Dies sei eine »Einladung für eine Perspektiverweiterung«, die an der Brücke noch adäquater als an der Stufenanlage zum Ausdruck kommen könne.
Auch Elvira Noa, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bremen, tritt für eine Realisierung des Mahnmals an der Kaisenbrücke ein: »Dieser Ort kommt dem Gedenken sehr entgegen«, sagte Noa beim Pressegespräch.
Die Arkaden dienten als Kranplattform der Entladung von Binnenschiffen Auch das geraubte jüdische Eigentum etwa aus Amsterdam und Antwerpen wurde zu großen Teilen in Binnenschiffen transportiert.
Henning Bleyl, der als taz-Redakteur das Mahnmal-Projekt initiierte und sich nun ehrenamtlich für dessen Umsetzung engagiert, spricht sich daher für eine genauere technische und finanzielle Prüfung des Brückenstandorts aus. Für eine Errichtung des Mahnmals an den Schlachte-Stufen plant das Kulturressort mit einer Summe von 660.000 Euro. An der Brücke könnte der Aufwand geringer sein. Bleyl betont: »Erinnern kennt keinen Preis. Die ,Angemessenheit‘ eines dauerhaften Zeichens gegen Antisemitismus ist nicht in Euro zu beziffern. 660.000 Euro sind keineswegs ,zu teuer‘ für eine dauerhafte Intervention in den Stadtraum. Gleichwohl wäre es positiv für die grundsätzliche Realisierbarkeit und breite Akzeptanz des Mahnmals, wenn es mit weniger Geld ginge.«
Die an den Schlachtestufen angestrebten Synergien durch die dort anstehenden Hochwasserschutz-Maßnahmen sind in die Ferne gerückt: Wie vor Kurzem bekannt wurde, beginnen die dortigen Hochwassermaßnahmen erst in drei bis fünf Jahren.
Zum Hintergrund des Projekts:
Seit vier Jahren wird in Bremen über die Errichtung eines »Arisierungs«-Mahnmals diskutiert, seit 2016 Jahren ist dessen Bau parlamentarisch beschlossen. Hintergrund ist die besondere Rolle Bremens als Hafen- und Logistikstandort bei der »Verwertung« jüdischen Eigentums. Diese beruht zum Teil auf der erzwungenen Massenauswanderung jüdischer Familien über Bremerhaven. Insbesondere profitierte Bremen jedoch durch den Abtransport jüdischen Besitzes aus den besetzten Ländern Westeuropas (»Aktion M«). Maßgeblich beteiligt war der Speditionskonzern Kühne+Nagel, dessen Firmenjubiläum 2015 zum Auslöser der Mahnmaldebatte wurde.
Der Ideen-Wettbewerb der taz zur Mahnmal-Gestaltung: Einsendungen, Materialien, Ausstellungsbilder
Ein pdf zum Ideen-Wettbewerb (Einsendungen, Materialien, Ausstellungsbilder) ist hier zu finden